Verlassene Tempel

(schwer)
Die Menschen haben sich neue Götter gesucht.
Ich weiß, dass Ihr ebensowenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht, dass es in euren geschmackvollen Wohnungen keine andere Hausgötter gibt als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter und dass Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft ... so völlig von Eurem Gemüte Besitz genommen haben, dass für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrigbleibt und ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm.
Schleiermacher
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Kommentar

Die verlassenen Tempel sind also die Kirchen. Und woran liegt es, dass sie von den Leuten mit den geschmackvollen Wohnungen nicht mehr besucht werden?

„Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet ...“

Der Autor meint also, wir brauchen die jenseitige Welt nicht mehr, weil die diesseitige so reich, also interessant usw. geworden ist.

Etwas über 50% der Deutschen gehören heute, 200 Jahre später, noch einer der beiden großen Kirchen, der katholischen oder der evangelischen, an. Was aber nicht bedeutet, dass die „Tempel“ wenigstens noch halbvoll wären.
Goethezeit

Autor und Werk

Friedrich Schleiermacher, 1768 -1834
Diese Sätze stammen aus dem Werk »Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« von 1799. Der Titel ist schon ein kleines Rätsel. Können Sie es lösen?

Lösung

Schleiermachers Buch enthält also Reden an die „Verächter“ der Religion, also an Leute, die nicht mehr religiös sind, die Religion nicht mehr schätzen, also eben verachten. Aber die Reden richten sich nicht an alle diese Verächter, sondern nur an die gebildeten darunter. Sie haben ja vielleicht auch besondere Motive für die Abkehr vom Glauben – eben den nicht nur geistigen „Reichtum“ ihrer neuen Welt.

Verben

verehren besuchen liegen übrig bleiben gelingen
20171011


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